Anlässlich der morgigen Wahlen zum Europarlament, der Regierungsbildung in der umkämpften Ukraine und Kommunalwahlen in Deutschland sei auf die Bedeutung der persönlichen Wählerpflicht hingewiesen.
Wolfgang Streeck, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln sowie Professor für Soziologie an der Universität zu Köln, befasst sich in seinem Buch „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ [Downlaod hier] mit dem Spannungsfeld zwischen Demokratie und Kapitalismus.
„Wie gründlich der neoliberal reformierte Kapitalismus dabei ist, den demokratischen Sozialstaatskapitalismus der 1960er und 1970er Jahre zu verdrängen, lässt sich daran erkennen, dass parallel zu seinem Vordringen auch die Beteiligung der Bürger an demokratischen Wahlen stetig und teilweise dramatisch zurückging, und zwar vor allem bei denen, die am meisten an staatlichen Leistungen und staatlich durchgesetzter wirtschaftlicher Umverteilung von oben nach unten interessiert sein müssten…Am niedrigsten ist die Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament…So lässt sich überall eine starke negative Korrelation zwischen Wahlbeteiligung und regionaler Arbeitslosen- und Sozialhilfequote beobachten…Wahlen machen, insbesondere in den Augen derjenigen, die auf politische Unterschiede angewiesen wären, keinen Unterschied mehr. Je weniger Hoffnung sie auf Wahlen setzen, desto weniger müssen die, die es sich leisten können, ihre Hoffnung auf den Markt zu setzen, befürchten, dabei durch politische Eingriffe gestört zu werden. Die politische Resignation der Unterschichten schützt den Kapitalismus vor der Demokratie und stabilisiert die neoliberale Wende, auf die sie zurückgeht.“ (S. 87 ff.)
„Während im neonationalistischen öffentlichen Diskurs nationale Überschuldung darauf zurückgeführt wird, dass die Bürger eines Landes sich auf Kosten der Bürger anderer Länder ein bequemes Leben gemacht haben (was es dann rechtfertigt, ihnen Solidarität-als-Strafe zukommen zu lassen), haben Schuldenstaaten in Wahrheit Schulden aufgenommen, um Steuern zu ersetzten, die sie von ihren Bürgern, allen voran den reichsten, nicht kassieren konnten oder um des sozialen Friedens willen nicht kassieren wollten oder durften. Dies macht die internationale Unterstützung für einen Schuldenstaat zu Solidarität nicht nur mit dessen Kreditgebern, sondern auch mit seiner niedrig und im Neoliberalismus immer niedriger besteuerten Oberschicht…“ (S. 138)
„Damit entsteht für diejenigen, denen die staatliche Steuerpolitik erlaubt, privates Überschusskapital zu bilden, das Problem, für dieses Anlagemöglichkeiten zu finden…Bei seiner Suche nach sicheren Anlagemöglichkeiten für sein Erspartes kommen ihm die nicht zuletzt wegen seines erfolgreichen Steuerwiderstands auf Kreditfinanzierung angewiesene Staaten gerade recht: Nicht nur ist die Armut des Staates sein Reichtum, sondern sie bietet ihm zugleich ein ideale Gelegenheit, diesen gewinnbringend zu investieren.“ (S. 114 f.)
Die Spirale dreht sich damit weiter und verschärft die extreme soziale Ungleichheit und Umverteilung von unten nach oben, wie es unter anderem Piketty jüngst beschrieben hat.
Damit die „Entdemokratisierung des Kapitalismus durch Schutz der ‹‹Märkte›› gegen politische Eingriffe im Namens marktkorrigierender sozialer Gerechtigkeit“ (S. 139) Einhalt geboten wird, muss der mündige Bürger zur Wahlurne schreiten und diejenigen wählen, denen er zutraut das verloren geglaubte Zepter dem Kapital wieder entreißen zu können.
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